Selbstregulation — Warum immer nur nett sein nicht gut ist
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Selbstregulation — Warum immer nur nett sein nicht gut ist

Nett sein. Sollten wird doch. Oder? Immer. Oder? Vielleicht nicht immer. Aber vor allem zu unseren Kindern. Oder? Spoiler: Immer nett sein schadet sogar. Uns und unseren Kindern. Hier lest ihr warum.

Ich sag’s jetzt mal ganz ehrlich: Ich bin nicht immer nett zu meinen Kindern. 

Ich sage ihnen auch mal, dass ihr Verhalten mich gerade total nervt. Oder werde fuchsteufelswild wenn sie wegen Pokemon-Karten buchstäblich mit Fäusten aufeinander losgehen. Und manchmal schreie ich sogar (siehe weiter unten). 

Wenn in der früh Radiergummi-Fuzerl auf der Küchenbank zu verteilen wichtiger ist, als die Schultasche zu packen, zeige ich meinen Kindern, dass ich Stress habe. Weil wir jetzt WIRKLICH ENDLICH los müssen. Indem ich hin und her zapple, die Augen überdrehe und mit Nachdruck fordere, das jetzt bitte zu lassen und sich aufs Fertigwerden zu fokussieren. Was oft auch nicht sehr nett rüberkommt. 

Das Märchen vom immer freundlichen Elternteil

Ich nehme an, ihr kennt das auch. Derartige Situationen mit Kindern gibt es dauernd. Jeden Tag. Je kleiner die Kinder, umso öfter. Dann vielleicht sogar jede Stunde. 

Und dann klopft das schlechte Gewissen an und sagt: Hey, du wolltest doch friedvoll mit deinen Kindern umgehen. Ihnen ganz und gar bedürfnisorientiert immer das geben, was sie gerade brauchen, um sorgenfrei und wohlbehütet aufzuwachsen. 

Aber wisst ihr was? Was eure Kinder SICHERLICH NICHT brauchen, sind Eltern, die dauernd nett sind! Ich rede hier gar nicht lang um den heißen Brei herum, ich sag’s mit weisen Worten, die ich mir ausgeliehen habe:

„Um in Beziehung zu bleiben, müssen wir alle unsere Gefühle zeigen, nicht nur die netten Vertreter Geduld, Ausgeglichenheit und Freundlichkeit.“

(Ruth Abraham, www.derkompass.org)

Deshalb die gute Nachricht: WIR MÜSSEN NICHT IMMER NETT SEIN! Macht Bedürfnisorientierung nicht zu eurem Sklaventreiber! 

Warum immer nett sein sogar schadet

Klaro, es ist verlockend, immer nett, freundlich und verständnisvoll zu sein – schließlich will man als Elternteil nicht als „böse“ wahrgenommen werden. Manchmal haben wir aber einfach keinen Bock, stundenlang Legosteine zu suchen. Oder zum hundertsten Mal ein Puzzle zu bauen. Schon wieder auf den Spielplatz zu gehen. Das billige Plastikspielzeug zu kaufen. Oder die sauteuren Markenschuhe. Aber wir machen es halt. Weil es unsere Kinder sind. Und weil wir nett sein wollen zu ihnen. Das Problem: Durch den völlig überzogenen Anspruch auf immer nett sein, steigt die Gewaltbereitschaft. Und wenn der unweigerliche Gefühlsausbruch kommt, fühlt man sich dann wie ein Versager — es kann doch nicht so schwer sein, zu seinem Kind NETT zu sein — oder?

Tja, Gefühlswelt ist nicht verhandelbar! Unterdrückung erhöht die Gefahr, dass es schlimmer wird — es kommt zur Explosion. 

Geduld ist nicht das Ziel

Es ist wieder passiert. Das Kind triggert unsere Wut und wir werden von unseren Gefühlen überwältigt. Und brüllen los. Oder schimpfen wie ein Rohrspatz. 

„Hab ich nicht schon tausendmal gesagt, dass…..“

Dabei wollten wir doch ruhig und geduldig den verschütteten Apfelsaft aufwischen, die Scherben aufkehren oder den Kugelschreiber vom Kleiderkasten radieren (hat wirklich funktioniert). 

Aber Geduld ist gar nicht der Heilige Gral, wie so viele denken. Geduld ist keine Selbstregulation, Geduld ist Unterdrückung („depression“). 

Wenn wir dem Kleinkind geduldig täglich neue Spielchen beim Zähneputzen erfinden, nimmt die Erschöpfung zu. 

Wenn wir geduldig darauf warten, dass unser Kindergartenkind seine Schuhe zubindet und bereits viel zu spät dran sind, staut sich Wut auf. 

Wenn wir unserem Vorschulkind zum fünfhundertsten Mal geduldig erklären, dass man andere Kinder nicht haut, kommt die Angst, dass unser Kind vielleicht nicht normal ist. 

Wenn wir unserem Schulkind geduldig alles hinterher tragen, meldet sich die Sorge, dass es vielleicht nie selbstständig sein wird. 

Wenn wir unseren Teenager geduldig darauf hinweisen, dass wir so nicht miteinander reden, steigt unsere Enttäuschung angesichts seiner Respektlosigkeit. 

Auch Psychologin und Elterncoach Dr. Laura Markham betont, dass das Unterdrücken von Emotionen zu unkontrollierten Wutausbrüchen führen kann, die das Vertrauen zwischen Eltern und Kind belasten. Es ist wichtig, authentisch zu sein und eurem Kind auch mal zu zeigen, dass ihr genervt seid – natürlich auf eine kontrollierte Weise. Sagt zum Beispiel: „Ich bin gerade wirklich sauer, weil du dein Zeug nicht weggeräumt hast. Lass uns das jetzt zusammen angehen.“ So lernt euer Kind, dass auch eure Geduld Grenzen hat.

Nett sein nervt

Das wahre Problem an der Sache: Wer seine Gefühle unterdrückt, kämpft gegen ein System an, welches über Millionen von Jahren gewachsen ist und unser Überleben gesichert hat — unser Nervensystem. Dieses Superhirn merkt sich alles, was je passiert ist und alles, was nicht passiert ist, aber passieren hätte sollen, damit es uns gut geht. 

Es speichert jeden Moment, indem wir uns unsicher oder bedroht gefühlt haben. Das Großhirn ist gegen unser Nervensystem absolut chancenlos. Der Psychiater und Neurowissenschaftler Stephen Porges definierte für seine Polyvagal-Theorie den Begriff „Neurozeption“ als Bezeichnung für die Fähigkeit des autonomen Nervensystems (ANS) – automatisch und ohne bewusste Wahrnehmung – die Umgebung laufend darauf zu prüfen, ob sie sicher, bedrohlich oder lebensgefährlich sei.

Wenn dann ein Trigger daherkommt, der an eine bedrohliche Situation erinnert, schlittern wir sofort in den Kampf- oder Fluchtmodus. Diese Situation kann Jahre oder Jahrzehnte zurückliegen. Unser Großhirn hat es vielleicht vergessen, das Nervensystem hingegen weiß es immer noch. 

Unser Nervensystem kann aber dank Neuroplastizität umlernen — das funktioniert vor allem dann, wenn wir unseren Körper ansprechen und nicht mehr beschämen (jetzt reiß dich doch mal zusammen, das kann doch nicht so schwer sein, wieso schaffst du das nicht?) und ihn mal akzeptieren wie er ist. Klappt übrigens auch bei Kindern.

Hier kann zum Beispiel die holistische Trainerin und Mentorin Jeannine Mik mit ihren Online-Kursen helfen. Ganz nebenbei ist sie auch noch Spiegel Bestseller Autorin.

Was ist Selbstregulation? 

Selbstregulation meint Kontakt mit uns selbst, sodass wir unsere Handlungen und Aussagen kontrollieren können. Selbstregulation hilft uns, in unseren sicheren Modus zu kommen und uns vom brüllenden Wutmonster wieder in ein friedvolles Gegenüber zurück zu verwandeln. 

Selbstregulation verlangen wir oft schon von ganz kleinen Kindern. Wenn am Spielplatz die Schaukel besetzt ist, sollen sie sofort aufhören zu schreien. Und wenn das Keks zerbricht, dürfen sie nicht weinen. Ist ja nix passiert. Wirklich kein Grund, so ein Drama zu machen. 

Umgekehrt denken sich die Kids: Warum kriegt Papa die Krise, wenn ich die Wand mit Filzstiften verziere? Schaut doch viel schöner aus, als vorher! Ist ja nix passiert! Wirklich kein Grund, so ein Drama zu machen.  

Selbstregulation lernen

Verliert ein 6jähriger beim Brettspiel, fängt er an zu toben. Klar, Verlieren ist frustrierend, aber genau solche Momente sind es, in denen Kinder Selbstregulation lernen können. Frustration ist ein unvermeidlicher Teil des Lebens. Laut einer Studie der Harvard University entwickeln Kinder, die regelmäßig mit kleinen Enttäuschungen konfrontiert werden, langfristig mehr Geduld und Durchhaltevermögen. Statt das Spiel sofort zu beenden oder zu trösten, hilft erklären, dass es in Ordnung ist, sich ärgerlich zu fühlen. Und welche Wege es gibt, damit man sich möglichst schnell nicht mehr ärgerlich fühlt, zum Beispiel tiefes Atmen, bis 10 zählen oder eine kurze Pause.

Diese Möglichkeiten, um bei Frustrationen seine Emotionen wieder in den Griff zu kriegen, stehen selbstverständlich auch den Erwachsenen offen. Bevor man losbrüllt, erstmal atmen. Oder kurz rausgehen und dort schreien. Denn schimpfen hilft sowieso nie. 

Selbstregulation kann übrigens auch für Erwachsene bedeuten, sich einfach mal auf den Fußboden zu setzen und zu heulen — funktioniert echt gut.

Und dann kommt irgendwann der Moment, wo ihr euch über jeden Streit mit euren Kindern freut. Echt jetzt. Weil jede Meinungsverschiedenheit die Chance bietet, miteinander in Beziehung zu treten und euren Konflikt kreativ und konstruktiv zu lösen. Und ihr damit üben könnt, so miteinander umzugehen, wie ihr euch das wünscht. 

Und wenn ich dann doch wieder schreie?

Tja, da kann ich auch aus dem Nähkästchen berichten. Erst vor kurzem hat unser 7jähriger seine kleine Schwester mit einem Lego-Motor attackiert. (Was es nicht alles gibt.) Dieses scharfkantige und spitzeckige Ding hing an einem Kabel und ließ sich perfekt wie ein mittelalterlicher Morgenstern in ihre Richtung schleudern. Gott sei Dank hat er sie nur am Rücken getroffen. Was immer noch sauweh getan hat. 

So lange und so laut hab ich noch nie mit ihm geschrien. Was das eigentlich soll und dass er für solche Aktionen doch jetzt schon wirklich zu alt ist und was da alles passieren hätte können, wenn das ins Auge geht, dann wären wir ins Krankenhaus gefahren und sie wäre vielleicht blind geworden, er hätte ihr einen Zahn ausschlagen können… 

Ich hab erst aufgehört, als das immer kleiner gewordene Häufchen Elend vor mir sich die Ohren zugehalten hat. Ein unmissverständliches Zeichen an mich, dass es nun aber wirklich reicht, Mama! 

Dann war ich selbst schockiert über mich. So was von nicht friedvoll und geduldig. So was von nicht nett. Ich hab mich bei ihm entschuldigt für die Schimpftirade. Und ihm erklärt, was da in mir los war. Dass ich wirklich, wirklich wütend war, weil das wirklich, wirklich gefährlich war, was er getan hat. Und was macht mein unglaublich schlauer, verständnisvoller Großer? Er sagt „Ist schon gut Mama“. Und er räumt den Lego-Motor ganz weit weg, damit das sicher nicht nochmal passieren kann. 

Also: Fehler sind Teil des Prozesses

Selbst die besten Eltern machen Fehler – und das ist völlig okay. Kinder lernen nicht nur durch ihre eigenen Fehler, sondern auch durch die Fehler ihrer Eltern. Wenn wir doch mal die Nerven verlieren und herumschreien können wir unseren Kindern immer noch als schlechtes Beispiel dienen. So macht man das nicht, das fühlt sich für alle blöd an. Und ihnen danach als gutes Vorbild zeigen, wie man mit seinem Gefühlsausbruch umgeht. Sich entschuldigen. Erklären, dass man auch als Erwachsener mal die Nerven verlieren oder einen schlechten Tag haben kann. So lernen unsere Kinder, dass Fehler menschlich und in Ordnung sind. Wir sollten verständnisvoll mit uns selbst sein, dann sind es auch unsere Kinder. Sonst kriegen wir alle noch Magengeschwüre.

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Bibi F.
Bibi F.
Früher waren es Kundenprojekte - nun begleite ich das tägliche Chaos mit zwei Kindern zwischen Kampfansagen und Kuschelattacken. Vom klassischen Erziehungs-Gedanken habe ich mich längst verabschiedet. Als Berufs-Bloggerin schreibe ich mir im gnadenlos ehrlichen Familienblog Erfahrungen, Einfälle und Emotionen von der Seele.

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