Manipulation, Unterdrückung, Erpressung – Unbeabsichtigte Gewalt an Kindern
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Manipulation, Unterdrückung, Erpressung – Unbeabsichtigte Gewalt an Kindern

Neben physischer Gewalt ist auch psychische Gewalt gesetzlich verboten. Zumindest unter Erwachsenen. Denn so manches Kind muss Dinge über sich ergehen lassen, die Geist und Seele langfristig schädigen können. Was sich oft unter dem Deckmantel „Erziehung“, „Konsequenzen“ oder „Fürsorge“ versteckt, sollten wir entlarven und ihnen niemals antun.

Gegenüber anderen Personen Gewalt auszuüben ist gesetzlich verboten und daher eine Straftat. Im Großteil der Elternköpfe ist mittlerweile Gott sei Dank tief verankert, dass körperliche Gewalt als Erziehungsmethode ausgedient hat. Und doch reden manche immer noch von der „gesunden Watschn“ oder dem gelegentlichen Klaps auf den Hintern, der die Kinder wieder „zur Vernunft“ bringen soll.

Auch das fest am Arm packen, wenn es nicht hört, an der Hand schnappen, wenn es weglaufen will, auf die Finger klopfen, wenn es nicht naschen darf oder aus dem Auto zerren wenn es nicht aussteigen möchte, gilt als Gewalt. Zumindest unter Erwachsenen. Aber so sehen das auch die Kinder. Auf ihre Wahrnehmung können wir uns immer verlassen, denn sie reagieren auf einer derartige Behandlung mit strampeln, kreischen, um sich schlagen und „Au, du tust mir weh“! schreien. Klare Botschaften!

Etwas schwieriger wird es bei psychischer Gewalt, die unter Erwachsenen ebenfalls verboten ist. Weil sie genauso weh tut. Leider kommt die viel häufiger vor, als man denkt. Ich wette, jeder von uns hat sie schon einmal ausgeübt. Wir sind da gar keine Ausnahme und stolpern immer noch umher zwischen verhaltensorientierter Erziehung und bedürfnisorientierter Begleitung.

Psychische Gewalt richtet ihren Schaden an den Kinderseelen viel subtiler an – und damit nachhaltiger.

Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Sie können nicht Verantwortung übernehmen, vorausplanen oder Gefahren erkennen so wie wir Großen es tun. Aber sie sind auf jeden Fall kleine Menschen, die es ebenso verdienen mit Achtung und Respekt behandelt zu werden. Ansonsten ist dies Diskriminierung (Adultismus bedeutet jemanden aufgrund seines Alters anders/schlechter zu behandeln)!

Deshalb sollten wir ihnen folgende Dinge niemals antun:

Ignoranz

Die Höchststrafe! Keine Aufmerksamkeit ist schlimmer als alles andere! Hirnforscher haben herausgefunden, dass das Gehirn auf soziale Ausgrenzung mit derselben Region reagiert wie auf körperlichen Schmerz. Kinder wollen keinesfalls übersehen werden, manche lassen sich sogar lieber schimpfen oder schlagen!

Wie oft ich das früher gemacht habe! Kind tobt und zetert und ich gehe einfach weg. Lasse es in seiner Wut und seinem Schmerz allein. Suggeriere ihm damit, wenn du deine Gefühle derart stark ausdrückst, möchte ich nichts mehr mit dir zu tun haben. Was wird das Kind in Zukunft tun? Seine starken Gefühle unterdrücken. Heilsam auf Dauer? Sicherlich nicht!

Aus dem Leben gegriffen: Mein Großer (3,5 Jahre) forderte lautstark Aufmerksamkeit, die ich ihm gerade nicht geben konnte. Ich war dabei, das Abendessen vorzubereiten, unsere Tochter hing wieder einmal wie eine Klette auf mir und verlangte auch ständig nach etwas. Meine Nerven lagen am Ende des Tages ohnehin schon blank. Als ich nicht auf sein Rufen einging, ließ er sich vom Sessel fallen, fing gekünstelt an zu weinen und schrie „Aua, aua!“.

Mein erster Gedanke: Geh komm, bitte! So ein Verhalten kann ich nicht tolerieren, ich lass mir doch nichts vormachen!

Dann kam mein zweiter Gedanke: Mein Sohn sucht gerade so verzweifelt meine Aufmerksamkeit, dass er meint, Schmerzen vortäuschen zu müssen, um sie zu bekommen.

Anstatt ihn also erst recht zu ignorieren „weil er damit nicht durchkommen darf“ oder seine Schauspielerei zu maßregeln, kniete ich mich zu ihm und fragte, wo es denn weh tue.

Das war für mich der Durchbruch und der Beweis, dass ich das Prinzip „bedürfnisorientiert vs verhaltensorientiert“ verstanden habe.

Abwertung

„Es ist gar nicht so einfach, die Fähigkeiten eines Kindes abzuschätzen, da sich Kinder immer sehr bemühen, den Erwartungen ihrer Eltern gerecht zu werden.“

Diesen weisen Spruch des dänischen Familientherapeuten Jesper Juul sollten wir uns alle zu Herzen nehmen. Wie oft haben mich meine beiden Großen schon mit ihrem Können und Wissen überrascht. Bewusst vermeide ich Sätze wie „Da bist du noch zu klein“ oder „Das kannst du noch nicht“, sondern sage lieber „Da musst du noch wachsen“ oder „bald kannst du das!“.

Denn wenn wir sie einfach machen lassen, dann klettert unsere Große mit 2 Jahren auf dem Klettergerüst ganz nach oben und unser Großer baut mit 4 Jahren die Lego-Autos mit Altersangabe 6+.

Kontrolle und Bevormundung

Schlägt in dieselbe Bresche wie Abwertung. Wir Erwachsene glauben ständig, es besser zu wissen. Was die Kinder anziehen, was sie essen, ob sie sich waschen, wie lange sie aufbleiben, ob Haare und Nägel geschnitten werden – alles wollen wir bestimmen.

Wir lassen unsere Kinder sehr vieles selbst entscheiden (solange niemand dadurch zu Schaden kommt natürlich) – und sind immer wieder überrascht, wie gut sie für sich selber sorgen können. Bei Meinungsverschiedenheiten wägen wir ab, ob es uns wert ist, der Beziehung zum Kind durch Machtausübung zu schaden.

Bisher haben wir ein paar Dinge identifiziert, bei denen wir ihnen keine Wahl lassen. Was wir ihnen aber auch authentisch kommunizieren. Dabei geht es immer um ihre Gesundheit. Diese sind zum Beispiel:

  • Vor dem Essen Hände waschen
  • Zweimal täglich Zähne putzen
  • Auf verkehrsreichen Straßen an der Hand gehen
  • Medikamente nehmen
  • Im Auto anschnallen

Je weniger Kontrolle und Bevormundung ein Kind erfährt, desto eher ist es kooperativ wenn es sein muss und desto schneller wird es selbstständig. Und so darf Tochter bei 10 Grad im T-Shirt im Garten herumlaufen und Sohn hat mittlerweile Haare wie ein Beatle.

Gaslighting

Mittlerweile in aller Munde macht es auch natürlich auch vor Eltern nicht halt: Nach dem Psychothriller „Gaslight“ von Patrick Hamiltonaus dem Jahr 1938 (in dem ein Mann seiner Frau einredete, sie wäre verrückt weil sie die Gaslichter flackern sieht, um an ihre Reichtümer zu kommen – in Wahrheit ließ er die Lichter flackern) bezeichnet „Gaslighting“ andere gezielt zu verunsichern, bis sie an sich selbst zweifeln, um sie damit gefügig und abhängig zu machen – bis zur psychischen Störung.

Fies oder? Tja – wir machen das tatsächlich immer wieder völlig unbewusst im Umgang mit Kindern:

  • Das hat doch nicht weh getan!
  • Ist doch nix passiert!
  • Das ist jetzt wirklich kein Grund zu weinen!
  • Du kannst doch nicht schon wieder Hunger haben!
  • Du bist mal wieder viel zu empfindlich!
  • Stell dich nicht so an, du bist ja kein Baby mehr!

Wenn wir unseren Kindern ständig (!) ihre Bedürfnisse und Gefühle absprechen und ihnen mit gut gemeinten Ratschlägen eigentlich immer nur vorhalten, was sie falsch machen, wird die eigene Stimme immer leiser, bis sie irgendwann nicht mehr zu hören ist – und im Extremfall später in jahrelanger Therapie wieder lauter gedreht werden muss.

Wenn wir unsere Kinder sehen, wie sie sind, selbst über sich entscheiden lassen (soweit dies gefahrlos möglich ist natürlich), sie mit ihren Empfindungen und Wünschen respektieren und als die wundervollen Menschen ernst nehmen, die sie bereits sind, werden unsere Kinder selbst-ständig, selbst-verantwortlich und selbst-bewusst und entdecken ihre Selbst-Wirksamkeit! Und das ist die beste Basis für ein starkes Selbst-Vertrauen von Kindern!

Manipulation

„Bitte nicht wieder schreien, da werd ich ganz traurig!“ Diesen Satz hörte mein 5jähriger nachdem er beim letzten Mal die gesamte Straße nach unten lautstark tobte, weil er nicht ohne Mama auf den Spielplatz gehen wollte.

Für die Großeltern war das natürlich sehr unangenehm, trotzdem dürfen wir Erwachsene die Verantwortung für unsere Gefühle nicht an unsere Kinder abgeben. Die Folge sind Überforderung und falsche Schuldgefühle.

Weitere Beispiele für Manipulation in der Erziehung sind das bereits erwähnte Gaslighting oder Sätze wie:

  • Hast du mich etwa nicht mehr lieb….?
  • Willst du, dass deine Schwester wieder weint?
  • Ein Löffel für die Mami, ein Löffel für den Papi….
  • Bekomme ich gar keine Umarmung zur Begrüßung?
  • In Afrika würden sich die Kinder über die Suppe freuen!

Freiheitsberaubung, Verbote und Bestrafung

Hausarrest, aufs Zimmer schicken, Fernsehverbot, Tabletverbot, nicht auf den Ausflug mitfahren dürfen, oder der Freund darf nicht zu Besuch kommen. Das sind die klassischen Strafen, die vielleicht kurzfristig das Verhalten ändern, aber langfristig der Beziehung schaden.

Irgendwann können wir unseren Kindern nichts mehr verbieten, wir möchten aber trotzdem immer noch, dass sie auf uns hören und uns ernst nehmen. Und was dann? Mehr dazu hier: Warum wir weder schimpfen noch strafen und wie es trotzdem funktioniert.

Einschüchterung und Drohungen

„Wenn wir erst zu Hause sind, wirst du was erleben!“
„Na warte, wenn ich das Papa erzähle!“
„Wenn du dich nicht auf der Stelle zusammenreißt, gehen wir sofort heim!“
„Wenn du nicht brav bist, gibt dir der Herr Doktor eine riesengroße Spritze/holt dich der Krampus/hat dich die Oma nicht mehr lieb/etc.!“

Keine weitere Erklärung nötig, oder?

Was noch dazu kommt: Am liebsten (weil am effektivsten) drohen wir mit Trennung.

„Wenn du nicht mithilfst, musst du dich alleine anziehen!“
„Wenn du jetzt nicht deine Zähne putzt, gibts nachher keine Gute Nacht Geschichte!“
„Wenn du dich nicht anziehst, gehe ich ohne dich!“
„Wenn du dich nicht anschnallen willst, musst du zuhause bleiben!“

Vor diesen Konsequenzen haben Kinder eine Heidenangst. Je kleiner das Kind, desto größer ist seine Panik vor dem Verlassenwerden, denn dadurch verliert es seine Lebensgrundlage. Aber dieser Druck, den wir so aufbauen können, beruht auf Bindung. Je öfter wir schimpfen, strafen und drohen, desto mehr leidet die Beziehung darunter. Das tut nicht nur dem Kind weh, sondern auch uns Erwachsenen.

Langfristig funktioniert es sowieso nicht, denn wenn keine gute Bindung mehr da ist, verliert auch die Androhung von Trennung an Wirkung. Das einzige, was unsere Kinder aus derartigen Situationen lernen ist: Wenn ich Hilfe/Nähe/Aufmerksamkeit brauche, werde ich im Stich gelassen!

Beschimpfung

Für mich absolut unverständlich! Wie kann ich jemanden, den ich über alles liebe, beschimpfen? Und doch hörte ich schon Kommentare wie:
„ Ich bin fix und fertig und dieses Gfrast schläft einfach nicht am Abend!“
„Mein Kind achtet null auf andere, er ist einfach ein A****“

Diese Aussagen wurden wenigstens nicht neben den jeweiligen Kindern getätigt. Ich möchte aber gar nicht wissen, was da innerhalb der vier Wände abgeht, wenn es keiner hört. Allerdings müssen gar nicht immer echte Schimpfwörter involviert sein. Folgende Aussagen tun genauso weh:

  • „Geh auf dein Zimmer, ich halte dein Gejammer nicht mehr aus!“
  • „Du kannst gar nicht mein Kind sein, so tollpatschig wie du bist!“
  • „Du bist halt wohl einfach zu dumm zum Lesenlernen!“

Demütigung

Meine Kinder nicht zu demütigen fällt mir persönlich am schwersten. Das fängt nämlich schon damit an, nicht über sie zu lachen, wenn sie unabsichtlich etwas Lustiges sagen, mit schokoverschmiertem Mund verkünden, dass sie den Kuchen nicht gegessen haben oder mit Schuhen, Hut und Sonnenbrille vom Papa durch die Gegend staksen.

Ich lache viel über sie, weil sie einfach so süß sind. Dabei beobachte ich aber, wie es ihnen dabei geht. Wenn sie mit lachen oder gerade gern den Kasperl spielen, ist das ok. Wenn sie sich wegdrehen oder mit Unverständnis reagieren, weil sie das gerade völlig ernst meinten, heißt es für die Erwachsenen Zusammenreißen!

Nachspionieren, Stalking

Unsere Kinder sind zwar noch nicht in dem Alter, wo das zur Sprache kommen könnte, doch aus dem Bekanntenkreis kenne ich viele Eltern, bei denen dies an der Tagesordnung steht. Eine App auf dem Handy übermittelt den Standort der Kinder, es werden Tagebücher und private Nachrichten gelesen oder die installierten Inhalte auf dem Tablet kontrolliert.

Wie gesagt, bei uns ist das noch nicht so weit, deshalb halten wir uns auch noch zurück mit unserer Meinung, aber aus heutiger Sicht werden wir davon Abstand nehmen.

Wie ginge es wohl euch damit?

Würde euer Partner euch so behandeln – wie würdet ihr euch fühlen? Wahrscheinlich nicht so gut. Und ihr würdet euch wahrscheinlich noch schlimmer fühlen, wenn ihr die Gewissheit hättet, dass ihr von diesem Partner vollkommen abhängig seid und keine Chance hättet, von ihm los zu kommen.

Einem Partner, der euch immer wieder Liebe, Sicherheit und Geborgenheit verspricht und dem ihr eigentlich blind vertrauen wollt. Würdet ihr ihm nach einer derartigen Behandlung noch glauben, dass es nur zu eurem Besten sei? Ich lasse das jetzt mal so stehen.

Ach ja – niemand sagte, dass diese Art der Begleitung einfach ist. Aber wir wertschätzen uns selbst und freuen uns über jeden noch so kleinen unperfekten Schritt, den wir in diese Richtung machen.

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Bibi F.
Bibi F.
Früher waren es Kundenprojekte - nun begleite ich das tägliche Chaos mit zwei Kindern zwischen Kampfansagen und Kuschelattacken. Vom klassischen Erziehungs-Gedanken habe ich mich längst verabschiedet. Als Berufs-Bloggerin schreibe ich mir im gnadenlos ehrlichen Familienblog Erfahrungen, Einfälle und Emotionen von der Seele.

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