Ruth Abraham, dreifache Mutter und Gründerin der größten Plattform für friedvolle Elternschaft im deutschsprachigen Raum, hat mit uns über kreative Konfliktlösung gesprochen und dass es manchmal sogar besser sein kann, mal keine Lösung parat zu haben.
Zähne putzen, schlafen gehen, Medizin nehmen, pünktlich sein – ständig unterschiedliche Bedürfnisse sorgen im Alltag mit Kindern reihenweise für unkontrollierte Wutausbrüche oder ausgewachsene Streitereien und Konflikte. Konflikte, an deren Ende wir uns viel zu oft als schreiende, schimpfende, drohende Monster wahrnehmen, die ihre Kids mit Macht und Einschüchterung dazu bringen wollen, zu tun, was wir ihnen sagen. Konflikte, die uns überfordern, an unsere Grenzen bringen und erst recht wieder die Seite in uns herauskehren, die wir unseren Kindern gegenüber nie zeigen wollten. Verständnis zeigen, geduldig begleiten, friedvoll sein – die 5 Schritte durch die Wut kennen wir ja eigentlich. Aber Theorie und Praxis sind halt doch zwei verschiedene Dinge.
Ruth Abraham ist in dieser Praxis seit Jahren zuhause. Mit derkompass.org hat sie eine Plattform gegründet, auf der Eltern sich im Mitgliederbereich der Weggefährt*innen austauschen können und in zahlreichen Kursen und Workshops professionelle Unterstützung auf ihrem Weg zur friedvollen Elternschaft finden. Einer Elternschaft, die auf Bindung beruht, ohne Gewalt, ohne Machtgefälle, ohne Kampf. In diesem Interview verrät sie uns, warum Konflikte ein Geschenk sein können und erlöst uns von dem Dogma der angeblich so erstrebenswerten immerwährenden Harmonie.
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Warum sind Konflikte wichtig für die Entwicklung einer Beziehung und daher erlaubt, bzw. sogar erwünscht?
Ich würde die Frage andersrum beantworten. Konflikte sind natürlich total wichtig, weil wir dadurch lernen, wo unsere Werte liegen und was uns wichtig ist. Es ist ja alles immer schön und gut in der Theorie, dass wir einander lieb haben, dass wir einander tolerieren und wie wir miteinander umgehen wollen, aber in der Praxis werden diese Dinge eben erst in Konflikten sichtbar.
Aber es ist auch so, dass Konflikte schlicht unvermeidbar sind. Das ist einfach eine Realität! Vor allem, wenn man in kleinen Familien mit kleinen Kindern zusammenlebt, knallen die ganze Zeit die Bedürfnisse von allen Einzelnen aufeinander. Also ist es schlicht nur praktisch, davon auszugehen, dass Konflikte da sind, dass Konflikte immer wieder auftauchen werden, dass das komplett normal ist und dass es total merkwürdig wäre, wenn wir keine hätten.
Konflikte kosten Kraft, auf beiden Seiten – wie kann ich vorbeugen, dass sie nicht zu viel Energie rauben bzw. zu oft auftreten?
Mit kleinen Kindern würde ich immer vorschlagen, dass man Situationen, von denen man weiß, dass sie konfliktreich sind, schlichtwegs vermeidet. Ich würde das auch, egal wie alt die Kinder sind, in Situationen vorschlagen, von denen ich weiß, dass sie für mich als Elternteil schwierig sind. Wenn ich zum Beispiel ängstlich bin, wenn mein Kind irgendwo klettert oder bestimmte andere Situationen oder Themen, die mich stressen.
Ich schlage vor, dass wir solche hochkonflikthaften Situationen so gut wie möglich vermeiden. Ganz ehrlich. Wir brauchen uns nicht ständig in Situationen begeben, die uns nicht gut tun, einfach nur weil wir denken, dass man das so macht. Das ist die eine Möglicheit, mit der ich ganz viel Stress rausnehmen kann.
Zum Zweiten kosten Konflikte vor allem deswegen Kraft, weil wir glauben, wir dürfen sie nicht haben. Da sind wir wieder bei Frage 1. Wenn wir Konflikten Widerstand geben und denken: „Ach, was ist denn bei uns nur los? Ich wollte doch jetzt so einen schönen Nachmittag mit euch haben und jetzt streiten wir uns wieder! Was ist denn hier verkehrt? Wie blöd ist das denn? Können wir nicht einmal einen schönen Moment miteinander haben als Familie?“ Wenn wir diese Formen von Widerstand haben, dann ruinieren wir uns selber den Nachmittag.
Doch Konflikte sind Qualitätszeit! Zeit, in der wir miteinander rausfinden, wie wir mit konträren Bedürfnisse umgehen. Wenn ich Konflikte als die Zeit verstehe, in der ich mein Kind darin begleite, mit seinen Gefühlen umzugehen und by the way mich auch, dann ist das genauso Qualitätszeit wie alles andere. Und wenn ich den Konflikten schlicht weniger Widerstand entgegen bringe, sind sie auch weniger anstrengend.
Welche Konflikte gibt es, die unvermeidbar sind?
Konflikte im Allgemeinen sind unvermeidbar. Im Framing von Kleinfamilien, also wenn ein oder mehrere Erwachsene ein oder mehrere Kinder begleiten, manchmal mit externer zusätzlicher Hilfe von Institutionen und oft während ein oder mehrere dieser Erwachsenen noch Erwerbsarbeit nachgehen – da müssen wir massive Zeitkonflikte haben. MÜSSEN wir! Das geht nicht zusammen. Das ist ein gesamtgesellschaftlicher Wahnsinn, den wir uns da ausgedacht haben.
Und wir MÜSSEN Konflikte in der Erfüllung der Grundbedürfnisse haben. Wenn eine erwachsene Person beispielsweise mehrere kleine Kinder begleitet, kann diese Person nicht genug schlafen, nicht genug essen, wird sie nicht genug Autonomie haben. Ein äußerst wichtiges Grundbedürfnis, also mal selber entscheiden, was man gerade möchte und was man gerade macht. Da MÜSSEN diese Konflikte kommen. Aber nicht, weil diese Konflikte irgendwie wichtig oder richtig oder toll sind, sondern weil wir ein Setup geschaffen haben, das uns ohne Ende erschöpft, wenn es um die Begleitung von jungen Menschen geht – weswegen ja auch ganz viele Leute schlichtweg keine Kinder mehr bekommen.
Wie gehe ich am besten mit diesen gesellschaftlich bedingten unvermeidbaren Situationen um?
Ich glaube, wenn wir dem Konflikt selber die Qualität zuschreiben, also dass die Konflikte selbst, die Auseinandersetzung, die Art und Weise, wie wir dabei miteinander sprechen, wie wir unsere Gefühle begleiten, wie wir modellieren, wie wir mit Frustration umgehen… wenn wir all das machen, dann ist es oft gar nicht mehr so wichtig, dass es immer eine Lösung gibt. Gerade bei den Dingen, die ich eben erwähnt habe, also diese Grundkonflikte mit zu wenig Schlaf, zu wenig Begleitung, zu viel Einsamkeit bei Erwachsenen, die junge Menschen begleiten, etc., da gibts ja erst mal keine Lösungen. Also normalerweise. Manchmal kann man ein bisschen nachhelfen, je nachdem, wie viele Ressourcen zur Verfügung stehen. Geld kann helfen zum Beispiel, soziale Kontakte können helfen, wenn man in einer größeren Familie zusammenlebt, etc., aber grundsätzlich lässt sich da nicht sehr viel verändern.
Das Beste ist, bei solchen Konflikten tatsächlich zu verstehen, dass die Qualität des Konfliktes nicht davon abhängt, ob er lösbar ist. Ich kann einen Konflikt haben, ich kann mit meinem Kind dasitzen und sagen: „Ey, das ist gerade richtig scheiße! Ich hab schlechte Laune und du hast schlechte Laune und es ist grad richtig mistig und ich hab keine Lösung.“
Und das kann wunderbar für unsere Beziehung sein. Das kann wunderbar für unser Miteinander sein. Das kann ganz viele andere Bedürfnisse von uns erfüllen. Das Bedürfnis nach Verbindung, nach Authentizität, nach gesehen und gehört werden. Bei uns und beim Kind. Nicht alles ist lösbar und das ist vollkommen in Ordnung und je besser wir uns darauf vorbereiten, dass eben nicht alles lösbar ist, desto einfacher wird es uns dann fallen, wenn Dinge dann im Moment eben nicht lösbar sind.
Auch wenn Lösung nicht das Ziel sein muss: Welche „Hilfsmittel“ können zum gewaltfreien Umgang mit Konflikten beitragen?
Ich bin kein Fan von Methoden was Beziehungen angeht, einfach deshalb weil Methoden unsere Menschlichkeit verneinen, unsere kulturelle Vielfalt, unsere sprachliche Vielfalt. Weil Methoden zum Beispiel Menschen mit Behinderung außen vor lassen, etc.
Aber ich bin ein Fan von Prinzipien. Und ein Prinzip, das im Umgang mit Konflikten helfen kann, ist zum Beispiel „beobachten bevor ich reagiere„. Wenn ich einen wiederkehrenden Konflikt habe, wie zum Beispiel jeden Abend Stress, weil mein Kind seine Zähne nicht putzen will. Anstatt in die Lösung zu springen, lohnt es sich, erst mal zu beobachten, was passiert da eigentlich genau? Was nervt mich? Wen nervt es eigentlich? Wann funktioniert es gut und wann nicht? Worin besteht eigentlich der Konflikt? Ist es das Zähneputzen selbst, ist es, wenn es spät ist, wenn wir müde sind, bin ich dann vielleicht nicht mehr kompromissbereit? Wo genau ist der Konflikt?
Genau beobachten – und beobachten bedeutet nicht bewerten, sondern mir selbst quasi freundlich zuschauen, an welchem Punkt ich die Nerven verliere. Und mein Kind auch. Je genauer ich beobachte, desto besser kann ich von da aus rausfinden, was wir eigentlich brauchen. Das wäre das nächste Prinzip. Worum geht es uns denn auf der Bedürfnisebene? Was brauchen wir da? Geht’s dem Kind darum, dass es gerne Autonomie haben will, wann und wie es die Zähne putzt? Geht’s dem Kind darum, dass es müde ist und schlafen muss? Geht’s mir darum, dass ICH dringend Autonomie brauche und deshalb will, dass mein Kind schnell die Zähne putzt und ins Bett geht, damit ich endlich in Ruhe Netflix schauen kann? Worum geht es uns wirklich? Auch das mit freundlicher und zugewandter Haltung, das ist ebenfalls ein wichtiges Prinzip.
Und dann geht es um eine kreative Lösung, die gegebenenfalls völlig gegen das geht, von dem ich glaube, das es angemessen ist. Also warum nicht auf dem Balkon Zähne putzen oder früher? Anstatt spätabends dreimal am Nachmittag? Welche Lösungen gibt es noch, an die ich bisher vielleicht gar nicht gedacht habe? Das sind lediglich Prinzipien, nach denen man sich richten kann, denn feste Regeln kann es für lebendige Beziehungen nicht geben.
Kann ich mit Hilfe dieser Prinzipien die kleinen Krisen als Chance zur Weiterentwicklung sehen?
Unbedingt! Konflikte, vor allem wiederkehrende Konflikte, sind normalerweise ein gigantisches Geschenk für mich selbst. Wenn ich bereit bin, weiter zu gehen als „Argh, mein Kind nervt. Mein Kind macht nicht, was ich will, was soll denn das?“
Wenn ich bereit bin, diesen Schritt nicht zu machen, darüber hinaus zu gehen und stattdessen zu fragen „Was ist es, was für mich hier schwierig ist?“ kann ich ganz, ganz viel über mich lernen. Der wichtigste Teil davon ist, dass wir uns nicht beschämen. Wir brauchen keine Härte oder Abwertung uns selbst gegenüber, wir können einfach feststellen: „Aha, guck mal! Für mich ist es offensichtlich wichtig, dass mein Kind saubere Klamotten anzieht. Weil ich da etwas damit verbinde, wie zum Beispiel, dass ich ansonsten ein schlechter Elternteil bin.“
Und weiter: „Ach schau mal, ich verbinde mit dem Aussehen meines Kindes meine Qualität als Elternteil. Wie interessant…! Mach ich das sonst auch? Ist das etwas, das ich gelernt habe? Ist das etwas, das ich so gut finde oder das ich vielleicht ändern möchte?“
Sehen wir Konflikte am besten nicht als „Ach, mein Kind nervt und wir kriegen das nicht hin, jetzt brauchen wir immer eine Lösung“! Sehen wir sie stattdessen als einen Hinweis darauf, dass uns etwas stört, was wiederum eine Aussage über uns ist, unsere Geschichte, unseren Charakter, unsere Bedürfnisse, dann kann das eine Riesenchance sein, ganz, ganz viel über uns zu lernen.
Die Begegnung mit Kindern ist erbarmungslos. Anders als mit allen anderen Beziehungen kann ich da nicht raus. Zumindest für die allermeisten Eltern gilt das. Ich kann da nicht raus, ich kann vom Elternsein nicht zurücktreten. Ich bin immer und immer und immer wieder mit meinen Themen konfrontiert. Wenn ich das annehme als das Geschenk, das es ist, dann kann ich unglaublich viel lernen!
Das Ziel heißt also nicht „keine Konflikte mehr“. Was sollten wir stattdessen daraus lernen?
Kommunizieren! Konflikte sind ein super Feld, um zu üben, wie ich meine Gefühle kommuniziere, ohne jemand anderem weh zu tun. Worin liegt der Unterschied zwischen „Oh Maus, ich bin grad so mega müde und hab überhaupt keinen Bock mehr, das jetzt zu machen, kannst du das mal bitte selber machen“ und „Wenn du das jetzt nicht selber machst, dann aber…..!“?
Wie kommuniziere ich authentisch? Ohne das als Ausrede zu nehmen, anderen weh zu tun? Wie versichere ich mich, dass meine Aussagen richtig angekommen, aber eine andere Person gleichzeitig nicht verletzt worden ist? Wie mache ich so genannte Rückversicherungsschleifen? „Es kommt mir so vor, als hättest du das so und so aufgefasst, versteh ich das richtig? Kann ich nochmal sagen, was ich meinte?“ Und das ist nicht nur mit größeren Kindern der Fall, das trifft auch schon auf ganz, ganz kleine Kinder zu.
Wir können üben, uns so auszudrücken, wie wir uns das im friedvollen Miteinander wünschen. Wir können Fehlertoleranz üben. Wir können üben, nachsichtig mit uns zu sein, denn Konflikte erinnern viele Eltern an etwas, was momentan leider ein Riesenthema in der Gesellschaft ist, nämlich, dass sie nicht perfekt sein können. Dass es keine perfekte Harmonie gibt, dass Familie und Miteinander unperfekte Menschlichkeit ist, und dass wir aufhören müssen, dahin zu streben, dass endlich alles konfliktlos ist. Es erinnert uns daran, dass wir alle Leute und keine Maschinen sind, und dass unser Ziel nicht ständig harmonisches Miteinander ist, sondern dass wir unser Miteinander so bedürfnisorientiert wie möglich gestalten. Und ja, da gehören Konflikte mit rein.
So bedürfnisorientiert wie möglich – Wie können die Weggefährt*innen dabei unterstützen?
Bei den Weggefährt*innen üben wir genau das: Wie kann ich mit einem Konflikt konstruktiv umgehen? Und das sind genau die Schritte, die ich als Prinzipien vorgeschlagen habe: Beobachten, verstehen, welche Bedürfnisse dahinter stehen, verstehen, welche Gefühle bei wem aufkommen, mit diesen Gefühlen umgehen lernen, ohne anderen weh zu tun und von da aus kreative Lösungen finden.
Das eine, was schlicht unterstützt, sind ganz viele Menschen, die diesen Weg auch gehen, wo man mitlesen kann, sich austauschen kann, auch mal erzählen kann, ohne bewertet zu werden. Das andere, was dabei hilft, sind ganz konkrete Übungen, Inputs, Expert*innen, Kurse, etc. in unserem Mitgliederbereich, der einerseits Wissen weitergibt und andererseits hilft, an dieser Transformation dran zu bleiben. Die Weggefährt*innen gibt es seit 2016 und die Transformationen, die wir gesehen haben, sind absolut unglaublich! Für viele, viele, viele Eltern ist dieses Loslassen von diesem harmonischen Familienbild der absolute Schlüssel für ihr eigenes Glück und für ein viel, viel friedvolleres (was nicht heißt konfliktfreieres) Miteinander in der Familie.
Ruth vom Kompass
Ruth ist Mutter dreier Kinder, Bloggerin, Unternehmerin und Soziologin. Seit vielen Jahren beschäftigt sie sich mit Gewalt und Machtmissbrauch – und wie wir beides beenden können. Sie lebt ohne Erziehung und für ihre Vision: Mehr Menschen, die sich gewaltfrei begegnen – ungeachtet ihres Alters. Mit ihren 3 Kindern kam die Frage nach friedlicher Elternschaft auf. Ihr Weg: Erziehung bleiben lassen und vertrauen. Seit der Gründung des Kompass begleitet sie Eltern auf ihrem individuellen Weg – weg von Macht und Gewalt hin zur Bedürfnisorientierung.