Hilfe, mein Kind explodiert bei jeder Kleinigkeit!
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Hilfe, mein Kind explodiert bei jeder Kleinigkeit!

Tobsuchtsanfälle aus heiterem Himmel sind wie ein Vulkanausbruch: Da brodelt es meist schon eine ganze Weile unter der Oberfläche. Wie es dazu kommt und wie man kindliche Wutausbrüche am besten vermeiden kann, lest ihr hier.

Aus dem Leben gegriffen: Erst gestern war es wieder soweit. Unsere Kinder basteln zurzeit liebend gern mit Moosgummi. Und jetzt haben wir sogar Glitzer-Moosgummi! Insgesamt 10 Seiten in verschiedenen Farben. Als sie sich diese aus dem Schrank holten, diskutierten sie, wer welche Farben nehmen darf. Unsere Tochter wollte genau dieselben haben, die sie am Tag davor auch verwendet hat. Sie wusste nur nicht mehr so genau, welche das waren. Unser Sohn meinte, er sagt es ihr nicht, weil er genau dieselben Farben auch verwenden wollte. Ich hatte keine Ahnung und als ich die Moosgummiblätter an mich nahm, damit sie bei dem Hin und Her nicht zerrissen werden, brachen beide völlig unvermittelt in Tränen und verzweifeltes Geschrei aus, das buchstäblich minutenlang andauerte. Ich war komplett perplex. Was war bitte jetzt auf einmal los?

Beispiele wie diese gibt es Tausende! Da werden Becher durch die Gegend geworfen weil sie die falsche Farbe haben. Da liegt ein wütend kreischendes Bündel am Boden weil es keine Cornflakes mehr gibt oder die Schaukel gerade besetzt ist. Da schaltet man den Fernseher aus und muss sich vor tieffliegendem Spielzeug ducken.

Der Grund für die ganze Misere? ÜBERFORDERUNG! In den allermeisten Fällen, in denen kleine Kinder derart ausrasten ist dies die Wurzel des Übels! Wobei unsere Kinder mit 6 und 4 Jahren ja mittlerweile gar nicht mehr so klein sind….

Es geht nicht um die Becherfarbe, die Schaukel, den Glitzer-Moosgummi! Dies ist vielleicht der Anlass, aber nicht die Ursache. Bei derartigen scheinbar unangemessenen Wutanfällen ist die vermeintlich nichtige Kleinigkeit der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Das Tüpfelchem auf dem i von Resignation. Es geht einfach nicht mehr. Und alles entlädt sich in Tränen und Geschrei.

Der Emotionsvulkan ist gleichzeitig ein psychisch entlastendes Ventil für das Kind und ein wirkungsvolles Signal für seine Umgebung: Meine Grenze ist überschritten!

Kinder müssen Selbstregulation erst lernen. Genauso wie laufen und sprechen. Das dauert ziemlich lange, bis sie etwa 7 Jahre alt sind. Erst dann können sie ihre Gefühlsausbrüche erfolgreich kontrollieren bzw. sich verbal äußern, was ihnen gerade so furchtbar gegen den Strich geht.

Wie kann ich Wutanfälle bei Kindern vermeiden?

Die schlechte Nachricht? Gar nicht. Aber wir können auf jeden Fall deren Häufigkeit reduzieren. Ich liebe dieses Bild von „Es war einmal das Leben“, wie die Nervenboten mit Nachrichten ins Gehirn flitzen. Die Kinder verstehen das auch schon: Wenn zu viele Nervenboten unterwegs sind (zu viele Reize auf uns einwirken), dann gibt es einen Stau auf den Nervenstraßen und wir haben das Gefühl, dass uns der Kopf platzt. Das nennt man Stress.

Umgemünzt auf den Alltag mit Kindern bedeutet dies: STRESS ABBAUEN! Und zwar bei allen Beteiligten. Wie bei einem Computer mit Systemüberlastung hilft es, ein Programm nach dem anderen abzuschalten, bis der Prozessor alles abgearbeitet hat und wieder ins Laufen kommt. Hier ein paar Ideen:

Grundbedürfnisse befriedigen

Hunger, Durst, Müdigkeit, Kälte, Hitze, Schmerz – das alles sind Dinge, deren Beseitigung in der berühmten Bedürfnispyramide die absolute Basis bildet. Ein hungriges oder müdes Kind quängelt nun mal leichter und es braucht überhaupt nicht viel, dass ihm der Kragen platzt. Je kleiner das Kind, umso weniger hat es die Möglichkeit, seine Bedürfnisse hinten an zu stellen. Deshalb am besten immer Snacks und etwas zu trinken mit haben (vielleicht nicht unbedingt Süßigkeiten, nach deren Konsum reagieren viele Kinder noch gereizter).

Kann das Grundbedürfnis aus welchem Grund auch immer nicht gestillt werden, hilft Verständnis, Anteilnahme und Körperkontakt. „Ich weiß, du bist müde und hungrig. Ich auch. Ich hab jetzt aber leider nichts zum Knabbern mit, aber komm, wir machen kurz eine Pause und dann sind wir in 5 Minuten zu Hause, dann kannst du was essen. Schaffst du das?“ Der einfühlsamen Zugewandheit folgt meist ein Nicken.

Wenn nicht, habe ich meine Kinder immer gefragt, was wir sonst machen sollen. Und wir haben immer eine Lösung gefunden. Oft reicht den Kids nämlich auch schon die Erkenntnis: „Aha, das blöde Gefühl im Bauch ist Hunger!“ Anschließend fällt die Selbstregulation leichter.

Nicht ständig befehlen

Den lieben langen Tag schränken wir die Selbstbestimmung unseres Kindes ein. Ob wir das wollen oder nicht.

  • Hör auf, deine Schwester zu ärgern!
  • Lauf nicht einfach über die Straße!
  • Zähne putzen muss sein!
  • Zieh deine Jacke an!
  • Ein Eis ist genug!
  • usw.

Natürlich sind viele dieser Befehle berechtigt, wir wollen schließlich nur das Beste für unser Kind. Dennoch sollten wir bei jedem Befehl überlegen, ob er wirklich nötig ist, oder ob das Kind hier selbst bestimmen darf. Denn seine eigene Meinung zu bilden und entscheiden zu dürfen gehört ebenfalls zu den Grundbedürfnissen jedes Menschen. Ich schmunzle immer in mich hinein, wenn ich den freudig-stolzen Grinser unserer Tochter sehe, wenn sie sich gerade entscheidet.

Bis die Selbstregulation vollständig entwickelt ist (wie schon erwähnt mit etwa 7 Jahren) liegt es am individuellen Autonomiebedürfnis eures Kindes, wie lange es seine eigenen Bedürfnisse übergehen und kooperieren kann, ohne auszuflippen. Das kann von Kind zu Kind (und auch von Tag zu Tag) sehr verschieden sein. Aber wenn Kinder ständig dazu „gezwungen“ werden, zu tun, was man ihnen sagt, reißt auch ihnen einfach irgendwann die Hutschnur!

Weniger Termine

Ich finde es gleichzeitig bewundernswert und fürchterlich, was dem Nachwuch zum Teil schon für (unnötige) Termine aufgebürdet werden. Bereits im Kindergartenalter machen sie bis zu drei Kurse pro Woche: Schwimmen, Judo, Fechten, Musikinstrumente, Klettern, Tennis, Tanzen, Turnen und sogar die ersten Fremdsprachen werden da schon gelernt! Ich war sehr froh, dass meine Kinder sich weigerten, an diesem Wahnsinn teilzunehmen. Kostet schließlich alles Zeit, Geld und Nerven!

Am Anfang hatte ich fast ein schlechtes Gewissen, weil es scheinbar MIR zu mühsam war und ich fürchtete, ihnen etwas vorzuenthalten. Aber dann wurden wir von mehreren Seiten (und mit der Zeit auch aus unserer Erfahrung) bestärkt, dass wir ihre Entwicklung auch ohne vorgegebene Kurse kindgerecht fördern können. Denn ein Nachmittag im Wald oder gemeinsam singen, wenn wir gerade Lust darauf haben, ist in diesem Alter noch ebenso lehrreich wie ein entsprechendes Kursprogramm. Und Termine, die sein müssen, gibt es trotzdem immer noch genug. Dann hilft…

Rechtzeitig aufbrechen

Zeitdruck ist der Staatsfeind Nummer 1 im friedvollen Umgang miteinander. Ich sehe es fast jeden Tag bei mir: Je näher ein Termin rückt (vor allem in der Früh der Unterrichtsbeginn in der Schule), desto lauter und ungeduldiger werde ich. Und desto mehr Zeit lassen sich die lieben Kleinen.

Pünktlich außer Haus zu kommen ist ein wichtiges Kriterium zur Stressreduktion. Deshalb früh genug anfangen, wegzugehen. Als unsere Kinder noch kleiner waren, fingen wir eine halbe Stunde vor der gewünschten Abfahrtszeit an, die Schuhe anzuziehen. Da saß noch jemand 15min (ja, echt jetzt) auf der Toilette bzw. brauchte eine frische Windel, die Jacke oder das Lieblings-Kuscheltier waren nicht auffindbar und dann musste man noch drei Runden mit dem Laufrad drehen, bevor man ins Auto steigen konnte. Die halbe Stunde war Geschichte. Mit größeren Kindern, die sich (zumindest theoretisch) schon selber anziehen, kann diese Vorlaufzeit etwas reduziert werden. Mittlerweile (unsere Kids sind jetzt eben 4 und 6) schaffen wir es schon in 10 Minuten.

Viel Bewegung

Da hat sich die Evolution etwas Tolles ausgedacht: Die Stresshormone, die wir bei der Jagd auf das Mammut ausschütten, bauen wir wieder ab, wenn wir mit der Beute auf dem Rücken kilometerweit nach Hause in unsere Höhle laufen. Die Krux daran: Unser biologisches System zum Stressabbau funktioniert immer noch wie in der Steinzeit, nur dass wir heutzutage nach einem anstrengenden Tag im Kindergarten, in der Schule oder im Büro eher selten kilometerweit nach Hause laufen.

Deshalb: So viel wie möglich bewegen! Am besten noch an der frischen Luft und so vielseitig wie möglich. Raus bei jedem Wetter, rutschen, schaukeln und klettern am Spielplatz, durch den Wald laufen oder einfach eine Station zu früh aus der Straßenbahn aussteigen und den Rest der Strecke zu Fuß gehen. Wirkt Wunder!

Viel Nähe, viel Lachen, viel Kuscheln

Ebenfalls eine gute Methode zur Stressreduktion! Denn durch Berührungen wird das „Kuschelhormon“ Oxytocin ausgeschüttet, das die Stresshormone Adrenalin und Cortisol ebenfalls abbaut. Kuscheln oder vielleicht gemeinsam ein Buch lesen bedeutet außerdem auch uneingeschränkte Aufmerksamkeit – ein Bedürfnis, das umso wichtiger ist, je kleiner die Kinder sind.

Auch Lachen und gute Laune vertreiben die fiesen Stresshormone. So wirkt nach einem stressigen Tag oder einem Streit eine actiongeladene Polsterschlacht oder eine Runde Versteckenspielen wahre Wunder! Unsere Kids lieben es außerdem, wenn wir ihnen ein Kasperltheater vorspielen (mit oder ohne Bühne) – da können sie sich immer noch krumm lachen.

Viel Ruhe, viel Freiraum, viel Spielen

Auch im Spiel, vor allem im freien, unangeleiteten Spiel gelingt dieses Runterkommen sehr gut. Deshalb sollten wir immer darauf achten, dass unsere Kinder (genauso wie wir Erwachsene) genug Zeit für sich haben. Die berühmte Me-Time ist auch schon bei Kindern spätestens ab dem Grundschulalter gefragt.

Wenn wir immer wieder in Ruhe machen können was wir wollen, stillt dies unser Bedürfnis nach Autonomie und wir sind anschließend eher wieder kooperationsbereit. Wenn nicht, fordern wir es irgendwann ein. Entweder bewusst, indem wir sagen: „Ich kann nicht mehr, ich brauch eine Pause“, oder unbewusst mit dünnem Nervenkostüm, viel Nörgeln und ständig schlechter Laune. Ihr habt es erraten: Kinder machen das natürlich unbewusst – sie explodieren dann eben bei jeder Kleinigkeit!

Gezielt helfen hier auch Bindungsspiele bei der Stressreduktion. Sie helfen Aggression oder Angst abzubauen, Konflikte zu lösen und stärken die Bindung zu den Bezugspersonen. Deren Wirksamkeit ist wissenschaftlich belegt und braucht weder eine spezielle Ausbildung noch spezielles Material.

Selbstfürsorge nicht vergessen

Last but not least müssen wir auch dafür sorgen, dass es uns selber gut geht. Denn unsere Kinder haben so feine Antennen, sie spüren sofort, wenn bei uns etwas im Argen liegt und reagieren entsprechend darauf. Sind wir ausgeglichen und entspannt, überträgt sich das auf unsere Kinder – und das Gegenteil natürlich ebenso. Also: Wann immer es geht, kurze Auszeiten vom Alltag nehmen und chillen!

Das alles ist selbstverständlich keine Garantie, dass es nun nie wieder zum emotionalen Feuerwerk kommt! Sowohl Kinder als auch Eltern können niemals in jeglicher Situation ruhig, entspannt und vernünftig bleiben. Wir sind ja schließlich keine Roboter und Gefühle gehören nun mal zum Leben – positive wie negative. Übrigens: Wir begegnen unserer Wut gleich ganz anders, wenn wir sie als Freundin betrachten, die uns beschützt und uns vor Dingen warnt, die uns nicht gut tun. Und wenn sie euer Kleinkind wieder einmal heimsucht, helfen unsere 5 Schritte durch die Wut konstruktiv mit ihr umzugehen.

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Bibi F.
Bibi F.
Früher waren es Kundenprojekte - nun begleite ich das tägliche Chaos mit zwei Kindern zwischen Kampfansagen und Kuschelattacken. Vom klassischen Erziehungs-Gedanken habe ich mich längst verabschiedet. Als Berufs-Bloggerin schreibe ich mir im gnadenlos ehrlichen Familienblog Erfahrungen, Einfälle und Emotionen von der Seele.

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